Autismus ist eine
genetisch bedingte oder früh erworbene Funktionsstörung des Gehirns.
Das Gemeinsame der so unterschiedlichen Autisten ist wohl, dass zwar
organisch, bzw. anlagemäßig, ihre einzelnen Hirnfunktionen, wie Sehen,
Fühlen, Reden, Motorik, usw., wie bei einem Gesunden arbeiten könnten,
aber es mangelt am alles verbindenden funktionstüchtigen Management dazu,
- die alles miteinander verbindende und regelnde übergeordnete
Gehirnfunktion ist beeinträchtigt, - bei dem einen Autisten mehr, bei dem
anderen weniger.
Man bedenke, bei allen Handlungen, die wir tun, müssen wir (vorher und
parallel) die Reize von außen und unsere inneren Impulse sinnvoll
koordinieren. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit auf Wichtiges lenken, (und
uns gegebenenfalls in Extremsituationen das Wichtigste in
Sekundenbruchteilen überdeutlich bewusst machen, - in den alles
überlagernden Vordergrund rücken können), - Unwichtiges dagegen müssen wir
permanent aus dem Bewusstsein ausblenden können, um die uns zur Verfügung
stehenden Kapazitäten der Hirnleistung optimal zu nützen.
Wir alle benötigen eine Art Oberregie/ eine funktionstüchtige Logistik in
unserem Gehirn. Diese scheint bei den Autisten gestört zu sein. (nebenbei
bemerkt: der Fachausdruck 'intermodale Störungen' trifft, aber er deckt
nicht alles ab)
Zwei Richtungen gibt es, wie die Wahrnehmungsverarbeitung gestört sein
kann:
--- Entweder ist die Wahrnehmungsverarbeitung zu eng gestellt und/oder
auch zu unflexibel und starr:
Diese Kinder leben mit einer Art Tunnelblick, (oder/und auch mit einer Art
"Tunnelsehen", "Tunnelriechen", "Tunnelfühlen", .... usw.).
Ihre Wahrnehmung fokussiert nur für uns "Normale" unwichtige Teilaspekte
einer komplexen Situation. Die Dinge nebendran, auch die viel
relevanteren, bleiben dagegen unbeachtet, sie werden unangebrachter Weise
ausselektiert. Aus dieser eingeengten Wahrnehmung ergibt sich eine
Reizleere der anderen Hirnfunktionen, und sie bleiben unterentwickelt/
unfähig/ nicht altersentsprechend funktionstüchtig. Diese Individuen
versuchen die innere Leere, die sich aus dieser extremen Einseitigkeit der
Aufmerksamkeit -(srichtung) ergibt, mit stereotypen Handlungen/
Selbststimulierung zu füllen. Das erklärt die Wichtigkeit, die diese
stereotypen Wiederholungen subjektiv für diese autistischen Kinder haben.
--- Im anderen Fall ist die Wahrnehmung zu weit gestellt, bzw. auch zu
instabil/zu unbegründet schwankend:
Alle Reize von außen und alle inneren Impulse und Assoziationen dringen
gleichzeitig unselektiert und ungefiltert ins Bewusstsein, oder/und die
Wahrnehmung kann nicht sinnvoll an die Situation angepasst werden, den
Kindern wechselt ihrer Aufmerksamkeit unkontrolliert zu
Nebensächlichem/Unrelevantem. Es entsteht ein Reizüberflutung und ein
inneres Chaos. Diese Kinder versuchen u.a. eine Kontrolle über ihr
chaotisches Innenleben zu erreichen, indem sie ritualisierte Handlungen
vornehmen, die uns ganz eigentümlich anmuten. Und sie setzen
Dinge/Ereignisse in einer Art miteinander in Beziehungen, die uns völlig
abstrus erscheint, weil sie es innerlich so erleben.
(Meist sind beide beschriebenen Fehlerarten der Wahrnehmungs- und innere
Impulsverarbeitung nebeneinander bei einem Kind zu beobachten, jedoch
überwiegt eine Richtung oft sehr stark.)
In jedem Fall muss die Oberregie über die Wahrnehmung und die innere
Bearbeitung /Regie über die eigenen Impulse erzieherisch/therapeutisch -
und auch die entsprechenden Selbstheilungskräfte - intensiv trainiert
werden.
Im ersten Fall ("Tunnel~") steht eine Öffnung der Person für neue
Erfahrungen im Vordergrund.
Im zweiten Fall muss der ordnenden "Oberregie im Gehirn" von Außen (oder
mit mühsam zu erlernenden Selbstkontrollmechanismen von Innen)
nachgeholfen werden. - Es muss ordnend/strukturierend, auch
reizreduzierend/abschirmend nachgeholfen werden. deswegen sind im zweiten
Fall klar erkennbare Strukturen und durchschaubare Konsequenzen im
Lebensalltag besonders wichtig! Und diese Kinder profitieren ungemein von
Wiederholungen komplexer Handlungsabläufe,
- die Orientierung und Wahrnehmungskontrolle und die Kontrolle der inneren
Impulse gelingt ihnen mit jeder Wiederholung besser.
Die kleinen materiellen Verstärker der Verhaltenstherapie sind meiner
Erfahrung nach für Kinder deutlich wahrnehmbare Wegweiser/Zeichen dafür,
wo es innerlich langgehen sollte. Sie sind deshalb äußerst wirksam.
Verbale Erklärungen sollten parallel, - auf alle Fälle aber in einfachster
und in gleicher Form wiederholt, - dazu geliefert werden.
Autistischen Kindern muss verstärkt das übergeordnete Prinzip einer
Alltagssituation nahe gebracht werden. Wenn sie das erlebt und begriffen
haben, erlangen sie ein Gerüst, mit dem sie Kontrolle über ihr "inneres
Management", ihre Wahrnehmungsteuerung und ihre Impulskontrolle künstlich
erlangen.
Etwas anders ausgedrückt:
Bei Autisten muss die Selektionsfähigkeit und innere
Aufmerksamkeitssteuerung, sowohl was Außenreize, aber auch was
Erinnerungen und Körperwahrnehmungen und was die inneren Impulse betrifft,
intensiv trainiert werden.
Das TEACCH-Programm und die Verhaltenstherapie bieten dabei die
erfolgsversprechendsten Hilfen an.
Ingrid Wiegel
(Sozialpädagogin in dem
Therapiezentrum für autistische Kinder, Jugendliche und Erwachsene der
Arbeiterwohlfahrt in Mannheim). |
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