Mein Modell über Autismus
von Ingrid Wiegel
 

Autismus ist eine genetisch bedingte oder früh erworbene Funktionsstörung des Gehirns.

Das Gemeinsame der so unterschiedlichen Autisten ist wohl, dass zwar organisch, bzw. anlagemäßig, ihre einzelnen Hirnfunktionen, wie Sehen, Fühlen, Reden, Motorik, usw., wie bei einem Gesunden arbeiten könnten, aber es mangelt am alles verbindenden funktionstüchtigen Management dazu, - die alles miteinander verbindende und regelnde übergeordnete Gehirnfunktion ist beeinträchtigt, - bei dem einen Autisten mehr, bei dem anderen weniger.

Man bedenke, bei allen Handlungen, die wir tun, müssen wir (vorher und parallel) die Reize von außen und unsere inneren Impulse sinnvoll koordinieren. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit auf Wichtiges lenken, (und uns gegebenenfalls in Extremsituationen das Wichtigste in Sekundenbruchteilen überdeutlich bewusst machen, - in den alles überlagernden Vordergrund rücken können), - Unwichtiges dagegen müssen wir permanent aus dem Bewusstsein ausblenden können, um die uns zur Verfügung stehenden Kapazitäten der Hirnleistung optimal zu nützen.

Wir alle benötigen eine Art Oberregie/ eine funktionstüchtige Logistik in unserem Gehirn. Diese scheint bei den Autisten gestört zu sein. (nebenbei bemerkt: der Fachausdruck 'intermodale Störungen' trifft, aber er deckt nicht alles ab)

Zwei Richtungen gibt es, wie die Wahrnehmungsverarbeitung gestört sein kann:

 --- Entweder ist die Wahrnehmungsverarbeitung zu eng gestellt und/oder auch zu unflexibel und starr:

Diese Kinder leben mit einer Art Tunnelblick, (oder/und auch mit einer Art "Tunnelsehen", "Tunnelriechen", "Tunnelfühlen", .... usw.).
Ihre Wahrnehmung fokussiert nur für uns "Normale" unwichtige Teilaspekte einer komplexen Situation. Die Dinge nebendran, auch die viel relevanteren, bleiben dagegen unbeachtet, sie werden unangebrachter Weise ausselektiert. Aus dieser eingeengten Wahrnehmung ergibt sich eine Reizleere der anderen Hirnfunktionen, und sie bleiben unterentwickelt/ unfähig/ nicht altersentsprechend funktionstüchtig. Diese Individuen versuchen die innere Leere, die sich aus dieser extremen Einseitigkeit der Aufmerksamkeit -(srichtung) ergibt,  mit stereotypen Handlungen/ Selbststimulierung zu füllen. Das erklärt die Wichtigkeit, die diese stereotypen Wiederholungen subjektiv für diese autistischen Kinder haben.

 --- Im anderen Fall ist die Wahrnehmung zu weit gestellt, bzw. auch zu instabil/zu unbegründet schwankend:

Alle Reize von außen und alle inneren Impulse und Assoziationen dringen gleichzeitig unselektiert und ungefiltert ins Bewusstsein, oder/und die Wahrnehmung kann nicht sinnvoll an die Situation angepasst werden, den Kindern wechselt ihrer Aufmerksamkeit unkontrolliert zu Nebensächlichem/Unrelevantem. Es entsteht ein Reizüberflutung und ein inneres Chaos. Diese Kinder versuchen u.a. eine Kontrolle über ihr chaotisches Innenleben zu erreichen, indem sie ritualisierte Handlungen vornehmen, die uns ganz eigentümlich anmuten. Und sie setzen Dinge/Ereignisse in einer Art miteinander in Beziehungen, die uns völlig abstrus erscheint, weil sie es innerlich so  erleben.

(Meist sind beide beschriebenen Fehlerarten der Wahrnehmungs- und innere Impulsverarbeitung nebeneinander bei einem Kind zu beobachten, jedoch überwiegt eine Richtung oft sehr stark.)

In jedem Fall muss die Oberregie über die Wahrnehmung und die innere Bearbeitung /Regie über die eigenen Impulse erzieherisch/therapeutisch - und auch die entsprechenden Selbstheilungskräfte - intensiv trainiert werden.

Im ersten Fall ("Tunnel~") steht eine Öffnung der Person für neue Erfahrungen im Vordergrund.

Im zweiten Fall muss der ordnenden "Oberregie im Gehirn" von Außen (oder mit mühsam zu erlernenden Selbstkontrollmechanismen von Innen) nachgeholfen werden. - Es muss ordnend/strukturierend, auch reizreduzierend/abschirmend nachgeholfen werden. deswegen sind im zweiten Fall klar erkennbare Strukturen und durchschaubare Konsequenzen im Lebensalltag besonders wichtig! Und diese Kinder profitieren ungemein von Wiederholungen komplexer Handlungsabläufe,
- die Orientierung und Wahrnehmungskontrolle und die Kontrolle der inneren Impulse gelingt ihnen mit jeder Wiederholung besser.

Die kleinen materiellen Verstärker der Verhaltenstherapie sind meiner Erfahrung nach für Kinder deutlich wahrnehmbare Wegweiser/Zeichen dafür, wo es innerlich langgehen sollte. Sie sind deshalb äußerst wirksam. Verbale Erklärungen sollten parallel, - auf alle Fälle aber in einfachster und in gleicher Form wiederholt, - dazu geliefert werden.

Autistischen Kindern muss verstärkt das übergeordnete Prinzip einer Alltagssituation nahe gebracht werden. Wenn sie das erlebt und begriffen haben, erlangen sie ein Gerüst, mit dem sie Kontrolle über ihr "inneres Management", ihre Wahrnehmungsteuerung und ihre Impulskontrolle künstlich erlangen.

Etwas anders ausgedrückt:

Bei Autisten muss die Selektionsfähigkeit und innere Aufmerksamkeitssteuerung, sowohl was Außenreize, aber auch was Erinnerungen und Körperwahrnehmungen und was die inneren Impulse betrifft, intensiv trainiert werden.
Das TEACCH-Programm und die Verhaltenstherapie bieten dabei die erfolgsversprechendsten Hilfen an. 



Ingrid Wiegel

(Sozialpädagogin in dem Therapiezentrum für autistische Kinder, Jugendliche und Erwachsene der Arbeiterwohlfahrt in Mannheim).


 

 

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